Freitag, 15. Januar 2021

Ausgetwittert - eine Verteidigung der Privatautonomie

Ist es Zensur, wenn eine private Internetplattform auf die Einhaltung von Nutzungsbedingungen achtet und Nutzern die weitere Teilnahme an ihrem Dienst verwehrt, die sich nicht an diese halten?
Im Nachgang der "Trump-Twitter-Affäre"  könnte man gegenwärtig diesen Eindruck haben, denn nachdem zunächst der russische Regierungskritiker Nawalny in einem Statement dies suggeriert hat, wurde eine ähnliche Aussage - inhaltlich zwar anders, aber letztlich mit demselben Ziel - durch Frau Merkel und andere Politiker verbreitet.

Zunächst müssen wir hier rechtlich drei Dinge unterscheiden:

Wenn in derartigen Äußerungen das Wort "Zensur" bemüht wird, muß man erst einmal schauen, wo sich deren Verbot überhaupt im Gesetz findet. Hier kommen für Twitter drei Fälle infrage:

1. Die allgemeinen Menschenrechte, die in Art. 19 feststellen: "Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäusserung; dieses Recht umfasst die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten".

2. Für uns in Deutschland kommt natürlich das Grundgesetz infrage, welches in Art. 5 I regelt: "Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt."

3. Schließlich kommt für Twitter als amerikanischem Unternehmen noch die US-Verfassung in Betracht, die in ihrem ersten Verfassungszusatz ("first amendmend") das sogenannte "right to free speech" verbrieft: "Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.”

All diesen Regelungen ist ursprünglich eins gemein: Sie waren geplant als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Der Staat soll kein Gesetz erlassen, daß die Redefreiheit einschränkt; der Staat soll nicht zensieren, den Zugang zu Nachrichtenquellen behindern oder die Berichterstattung beschränken, der Staat soll nicht diejenigen, die einer anderen Meinung anhängen, anders behandeln, als diejenigen, die der "Mehrheitsmeinung" anhängen.

Ursprünglich enthalten diese Gesetze keine Regeln für das Verhältnis von Privatleuten untereinander. Natürlich ist ein Zeitungsverlag nicht verpflichtet, eine Meinung abzudrucken, die der Meinung des Verlegergremiums entgegen steht. Einen Anspruch, in einer bestimmten Zeitung abgedruckt zu werden, gibt es nicht.

Erst im Laufe späterer Entscheidungen wurde der Rahmen der sog. "Drittwirkung" von Grundrechten ausgedehnt; richtungsweisend z.B. die sog. "Blinkfüer"-Entscheidung des BVerfG zum Thema "Boykottaufruf als freie Meinungsäußerung".

Letztlich stehen sich bei der Frage der Redefreiheit durch Abdruck privatrechtlichen Zeitungen das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit dem Grundrecht der Vertragsfreiheit ("Privatautonomie") gegenüber, die direkt aus mehreren Grundrechten entnommen werden kann (allgemeine Handlungsfreiheit, Eigentumsgarantie, teilweise Berufsfreiheit...). Sie beinhaltet das Recht, selbst entscheiden zu können, "ob, wo, wann, wie und mit wem" ich als privater Marktteilnehmer einen Vertrag schließe. Diese Freiheit wird lediglich in Notsituationen eingeschränkt, nämlich z.B. durch den sog. "Kontrahierungszwang" für bei Verträgen der Daseinsvorsorge, also etwa Strom, Abwasser etc.

Ich hatte geglaubt, im Jahre 28 nach Erfindung des WWW wäre es mittlerweile common sense, daß eine künstliche Unterscheidung zwischen online und offline weder erforderlich ist, noch der Sache gerecht wird.
Um so überraschender fand ich das folgende, gestern auf Spiegel.de gefundene Zitat:
"Frankreichs Wirtschaftsminister Bruno Le Maire verlangte, solche Entscheidungen nicht mehr Privatunternehmen zu überlassen. Er sei »schockiert« darüber, dass Twitter diese Entscheidung habe treffen können, sagte Le Maire dem Sender France Inter. Die Regulierung der Internet-Branche könne aus seiner Sicht »nicht von der Digital-Oligarchie selbst vorgenommen werden«. Sie sei Aufgabe der Staaten und der Justiz."

Dazu kann man aus meiner Sicht nur sagen: Seit wann ist es Aufgabe von Staat und Justiz, sich in die Privatautonomie freier Bürger einzumischen und einen nicht existierenden Kontrahierungszwang für das Hosting von user content durchzusetzen, die mit der jeweiligen Firmenphilosophie nicht in Einklang steht?

Übersetzt in die analoge Welt der Printerzeugnisse würde das ja bedeuten: Le Maire fordert, daß nicht die Zeitungsverlage selbst bestimmen dürfen, was gedruckt wird, sondern Regierung und Justiz schreiben vor, was in Zeitungen gedruckt werden muß. DAS nenne ich Zensur, nicht den umgekehrten Fall.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Es geht hier nicht um die Meinungsäußerung an sich - es geht lediglich um den Verbreitungskanal. Wenn sich Google morgen dazu entscheiden sollte, mich von der Plattform blogspot.com auszuschließen - wie verlogen wäre es, wenn ich deshalb "Zensur!" schreien würde? Es muß das gute Recht einer Firma bleiben, frei zu entscheiden, mit wem sie Verträge eingeht und wessen Meinungen und Inhalte sie veröffentlicht. Ich würde in dem genannten Fall z.B. selbst eine blogging-Software zur Hand nehmen, auf meinem eigenen Server installieren und dann eben meine Meinung verbreiten. Dann habe ich eben nicht mehr die Bequemlichkeit und Reichweite der großen Plattform, aber meine Meinung wird mir ja nicht verboten. Wenn ich mich mit einer kontroversen Meinung vom Wohlwollen Dritter bei der Verbreitung abhängig mache, muß ich mich nicht wundern, wenn mir genau diese Abhängigkeit irgend wann auf die Füße fällt. Ich darf allerdings erwarten, daß der Staat sich in diesen Vorgang nicht einmischen wird. Genau das garantiert das Recht der freien Meinungsäußerung. Nicht weniger - und nicht (viel) mehr.

Link:
Spiegel Netzwelt
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